Benedikt Dyrlich von Benedikt Dyrlich
Der ehemalige sächsische SPD-Landtagsabgeordnete Wolfgang Marcus, ist am Dienstag (9. 8. 2016) im Alter von 88 Jahren in Weingarten (Baden-Württemberg) verstorben. Geboren wurde er 1927 in Görlitz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Mitbegründer der sächsischen CDU und Jungen Union. 1946 musste der Katholik in den Westen fliehen, wo er als Hochschullehrer tätig war. Ab den 1970er Jahren war er als SPD-Mitglied in der Kommunalpolitik tätig.
Nach der Wende und seiner Mitgliedschaft im neuen Sächsischen Landtag (1990-1994) war er bis zuletzt vielfältig in der Bildungs-, Medien-, Kirchen- und Minderheitenpolitik in Sachsen und Baden-Württemberg aktiv.
Hier einige meiner Erinnerungen, welche in der Festschrift „Mut zur Freiheit – ein Leben voller Projekte“ (LIT Verlag, Berlin 2007) zum 80. Geburtstag von Wolfgang Marcus erschienen sind:
1.
Wolfgang Marcus bin ich im Oktober 1990 zum ersten Male begegnet. Vor der Konstituierung des neuen Sächsischen Landtages kamen wir in einer Pause der ersten Fraktionssitzung der SPD in der Dresdner Dreikönigskirche ins Gespräch. Der damals älteste Abgeordnete in der Fraktion wusste schon, dass ich aus dem katholischen Sorbenland komme. Er wusste auch, dass es nicht „normal“ ist, dass einer, der von dieser „Insel“ stammt, den Sozialdemokraten angehört.
In jenem ersten Gespräch erfuhr ich, dass Wolfgang Marcus etliche Kontakte zu einfachen Menschen im Landstrich meiner Kindheit pflegt – und das schon seit Jahrzehnten. Er konnte mit Orten der zweisprachigen Lausitz wie Nebelschütz, wo meine Mutter herkam, Crostwitz, wo das Denkmal für die gefallenen polnischen und ukrainischen Befreier steht, und Piskowitz, in dem sich Viktor Klemperer auf der Flucht nach Bayern bei seinem ehemaligen sorbischen Dienstmädchen versteckte, souverän, wenn auch unaufdringlich umgehen. Selbstverständlich wusste er auch, dass der in Dachau umgekommene Hofkaplan Alois Andritzki und die sozialdemokratische Lehrerin Maria Grollmuss, die in Ravensbrück von den Nazis umgebracht worden ist, aus dem sorbischen Radibor bei Bautzen stammen.
Wolfgang Marcus vermittelte von Anfang an mehr als nur höfliche Eindrücke über ein gutes, wenn auch manchmal kompliziertes Verhältnis zwischen Deutschen und Sorben in Sachsen, in und um Kamenz, Bautzen und Hoyerswerda. Ich fühlte sofort, dass er diese Beziehung, in Jahrhunderten gewachsen, ohne Worthülsen und Lippenbekenntnisse bewerten und zum Ausdruck bringen kann, weil er Einblicke in die Geschichte und Erfahrungen aus der Vergangenheit verinnerlicht und verarbeitet hat. Es war zu spüren, dass sein Leben selbst mit dem Schicksal sorbischer Menschen, vor allem aus der katholischen Lausitz, eng verflochten ist.
Das ist wohl der Hintergrund, wieso die Worte des Landespolitikers Wolfgang Marcus über uns Sorben anlässlich der Verabschiedung der neuen Sächsischen Verfassung glaubwürdig und eindeutig, aber zugleich hintersinnig und verschmitzt klangen. „Sachsen wäre nicht Sachsen, wenn es die Kultur des Volkes der Sorben nicht gäbe“, brachte der in allen Fraktionen anerkannte Volksvertreter des neuen sächsischen Staates am 25. Mai 1992 in der Dreikönigskirche zum Ausdruck.
2.
Das politische und sehr oft ganz konkrete Engagement von Wolfgang Marcus für das sorbische Schulwesen, für Sprache, Kultur und Medien des kleinsten slawischen Volkes nach der Wende hat einen ganz bestimmten Ursprung. Erst im Jahre 2000 bin ich dieser Quelle auf die Schliche gekommen. In einem Interview, welches ich für die Osterausgabe der sorbischen Abendzeitung Serbske Nowiny vorbereitete, hat mir Wolfgang Marcus offenbart, dass sein Vater Ernst, ein Chemiker und Apotheker aus Görlitz, halber Jude war. Dieser Tatbestand führte den jungen Wolfgang zur Ausgrenzung und dann im Jahre 1942 letztlich zum Ausschluss aus dem Staatlichen Gymnasium in Dresden.
Vor der Relegation von dieser Schule – Wolfgang Marcus war da noch Zögling des St. Benno-Gymnasiums in der sächsischen Landehauptstadt – traf er aber im Religionsunterricht auf den jungen sorbischen Priester Alois Andritzki, der bis zu seinem Martyrium im KZ – 1941 bis zum Tod 1943 – fast zwei Jahre an der Hofkirche in Dresden gewirkt hatte. Eines Tages kam der junge Kaplan auf Wolfgang Marcus zu und fragte, was ihn bedrückt.
„Ich erzählte ihm über meinen nicht arischen, damals schon kranken Vater“, antwortete Wolfgang Marcus auf eine entsprechende Frage unserer Zeitung. Und er führte aus, dass ihm Alois Andritzki seinerzeit Mut zugesprochen hatte. „Er brachte Verständnis für meine Situation auf“, sagte er.
Alois Andritzki – so Wolfgang Marcus – meinte, dass jeder Mensch dazu bestimmt sei, ein Ebenbild Gottes zu werden, unabhängig davon, ob er katholisch oder jüdisch, deutsch oder sorbisch ist.
In dem Interview habe ich von Wolfgang Marcus zudem erfahren, dass er im Fronteinsatz auch im sorbischen „Tal der Tränen“ zwischen den Dörfern Crostwitz und Horka auf der Seite der Wehrmacht kämpfen musste. Ich spürte, dass es ihm nicht leicht fällt, über die blutigen Kämpfe und die brennenden Gehöfte im Sorbenland im Frühling 1945 zu sprechen.
3.
Viele Artikel der Sächsischen Verfassung wären ohne Wolfgang Marcus nicht so, wie sie sind. Ich erinnere mich noch, wie konsequent er in einer Sitzung des Ausschusses für Kultur und Medien im Landtag die von ihm entworfenen Bildungsgrundsätze für den Artikel 101 erläuterte und verteidigte. Dabei ging es ihm nicht um große Worte, sondern um eine ungetrübte und verständliche Definition der Staatsziele in diesem Bereich, die sich alle Bürgerinnen und Bürger des Freistaates Sachsen zu Herzen nehmen können.
Ich erinnere mich, wie er nach einer alternativen Formel zum eindeutig christlichen Grundsatz suchte, wonach die Jugend „zur Ehrfurcht vor der Schöpfung“ zu erziehen ist. Eine solche Formel aber lehnten die Vertreter der linken Listenvereinigung ab.
Wolfgang Marcus fand einen Kompromiss, der sowohl dem Kodex der biblischen als auch der Sprache der Aufklärung entspricht. Christen und konfessionslose Sozialisten konnten sich in einer Angelegenheit, die in die Zukunft weist, einigen.
In diesem Grundartikel ist dann auch die „Ehrfurcht vor allem Lebendigen“ aufgenommen worden, zu der junge Menschen im Freistaat Sachsen erzogen werden sollten. Wolfgang Marcus war in und nach den harten Auseinandersetzungen um eine angemessene Wortprägung in der Lage, unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen auf einen verpflichtenden Kern zu führen.
Ich werde bis heute nicht das Gefühl los, dass das Ideal von der „Ehrfurcht vor allem Lebendigen“ das Denken und Handeln von Wolfgang Marcus gerade und vor allem auch nach der Wende geprägt hat. Auch sein Verhältnis zu uns Sorben hat damit viel zu tun.